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ATSB1905 Bewegung von Menschen auf veränderlichem Untergrund

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Veranstaltung Aktuelle Themen der Sportbiomechanik
Autor Judith Beier
Bearbeitungsdauer circa 45 Minuten
Status fertig
Zuletzt geändert am 14.08.2019


Einleitung

Auf dieser Wiki-Seite soll der menschliche Gang bei schwingenden Untergründen untersucht werden. Hierbei stehen die Parameter Ganggeschwindigkeit, Schrittweite und Schrittfrequenz im Fokus. Im Rahmen eines Forschungsprojektes mit dem Fachbereich Bauingenieurwesen Technischen Hochschule Köln und der TU Darmstadt soll untersucht werden, wie die Bodenreaktionskräfte auf schwingenden Untergründen modelliert werden können. In der VDI-Richtlinie 2038 – Blatt 1 (Richtlinie VDI 2038-Blatt 1, 2012) ist ein Last-Zeit-Verlauf für diese Kräfte gegeben, der überarbeitet werden soll. Gerade für Fußgängerbrücken werden die Konstruktionen immer schlanker und filigraner. Dadurch haben die Bauwerke eine niedrige Eigenfrequenz und können durch den menschlichen Gang angeregt werden. Je stärker der Untergrund schwingt, desto eher muss der Mensch seinen Gang an die Schwingungen anpassen.


Der menschliche Gang auf starrem Untergrund

Der Mensch verfügt über verschiedene Formen der Fortbewegung. Hierbei stellte Gehen die alltägliche Form der Fortbewegung dar, während Rennen in vielen sportlichen Situationen von zentraler Bedeutung ist. (Kramers-de Quervain, Stüssi, & Stacoff, 2008)
Im englischen wird zwischen walking und running unterschieden, hier ist die jeweilige Bedeutung klar. In der deutschen Sprache wird für running, je nach Literaturquelle, Laufen oder Rennen verwendet. Durch die polyseme Eigenschaft des Wortes Laufen, das sowohl für Gehen, Joggen oder Rennen verwendet werden kann, wird im Folgenden grundsätzlich von Rennen gesprochen, um die klare Abgrenzung zur Bewegungsart Gehen zu verdeutlichen.
Die nachfolgenden Kapitel sollen nur einen kurzen Überblick über den Bewegungsablauf und die Gangphasen geben. Weitere Informationen können auf der Wikiseite Gangarten eingesehen werden.



Gehen

Gehen ist die wichtigste Fortbewegungsart des Menschen und der Bewegungsablauf verläuft bei allen gesunden Menschen nach demselben Grundmuster. (Kramers-de Quervain, Stüssi, & Stacoff, 2008)
Der Gangzyklus gliedert sich in Standphase und Schwungphase, wobei die Standphase, unterteilt in Bipedale Initiale Standphase, Monopedale Standphase und bipedale terminale Standphase, circa 60 % des Gangzyklus ausmachen. Die genaue Dauer der einzelnen Phasen variiert jedoch mit der Ganggeschwindigkeit. (Perry, Oster, Wiedenhöfer, & Berweck, 2003)
Ein Gangzyklus umfasst einen Doppelschritt, also die Zeit zwischen zwei initialen Bodenkontakten derselben Extremität. Die gebräuchlichsten Messparameter zur Erfassung des menschlichen Ganges sind die freie Ganggeschwindigkeit, die Schrittlänge (und daraus resultierend die Distanz eines Gangzyklus), sowie die Schrittfrequenz. Der Zusammenhang zwischen den drei Parametern ergibt sich zu:

\begin{align*} v\mathrm{[m/s]}=L_\mathrm{S}\mathrm{[m]}\cdot f\mathrm{[1/s]} \end{align*} Mit $v$ als Ganggeschwindigkeit, $L_\mathrm{S}$ als Schrittlänge und $f$ als Schrittfrequenz. Die freie Ganggeschwindigkeit, auch preferred walking speed, beschreibt die Geschwindigkeit, die mit dem niedrigsten Energieverbrauch verbunden ist. Sowohl eine Beschleunigung, als auch eine Verlangsamung der Geschwindigkeit erhöht den Energieverbrauch. Sie beträgt bei einem gesunden Menschen durchschnittlich 82 Meter pro Minute, bei Männern liegt die Geschwindigkeit höher, bei Frauen ist sie geringer. (Kramers-de Quervain et al., 2008; Perry et al., 2003)
Als Normwerte für die Zeit- und Distanzparameter geben Kramers-de Quervain et al. (2008) folgende Werte an:

Freie Ganggeschwindigkeit [m/sec]1,20-1,50
Distanz Gangzyklus [m] 1,20-1,50
Schrittlänge [m] 0,65-0,75
Schritt-Kadenz[1/min]105-130

Die Bodenreaktionskräfte beschreiben den zeitlichen Verlauf der aufgebrachten Last eines Schrittes. Beim Gehen werden vertikale Kräfte sowie horizontale Kräfte in Gangrichtung und quer zur Gangrichtung (medio-laterale Kräfte) aufgebracht.

Abb. 1: vertikale Bodenreaktionskräfte aus eigenen Messdaten

Wie in der Abbildung zu sehen ist, werden die Kräfte im Bereich der Zweibeinstandphase von einem auf das andere Bein umgelagert, das Bein wechselt hier von der Stand- in die Schwungphase. Bei einem einzelnen Schritt in in vertikaler Richtung circa das 1,2-1,3 fache Körpergewicht aufgebracht. Die Kraftspitzen sind abhängig von der Ganggeschwindigkeit. (Kramers-de Quervain et al., 2008)


Rennen

Rennen unterscheidet sich vom Laufen durch die Flugphase. Während beim Gehen immer Bodenkontakt besteht, sind beim Laufen in der Flugphase beide Beine in der Luft. Der Mensch wechselt bei erhöhter Geschwindigkeit automatisch vom Gehen zu Rennen.

Abb. 2: vertikale Bodenreaktionskräfte aus eigenen Messdaten bei Rennen

Die Geschwindigkeit, in der ein Mensch von Gehen zu Rennen wechselt, nennt man preferred transition speed (PTS) und sie liegt typischerweise in einem Bereich um 2 m/s.
Menschen sind jedoch auch in der Lage, schneller als 2 m/s zu gehen und langsamer als m/s zu rennen. (Rotstein, Inbar, Berginsky, & Meckel, 2005) Beim Laufen wird die vertikale Bodenreaktionskraft auf das 2,5-fache des Körpergewichts erhöht. Auch hier ist die Lastspitze von der Geschwindigkeit abhängig und kann noch höhere Werte erreichen. (Perry, 2003; Vaughan, 1984) Die Dauer des Bodenkontaktes und der Flugphase hängen ebenfalls von der Geschwindigkeit ab. (Vaughan, 1984)
Bei einer Geschwindigkeit von 5 m/s beträgt die Verteilung der Standphase zur Flugphase circa 30% : 70%.




Der menschliche Gang auf schwingendem Untergrund

Die meiste Zeit bewegt sich der Mensch auf starren Untergründen. Straßen, aber auch Betondecken in Gebäuden, weisen eine so hohe Eigenfrequenz auf, dass sie durch den menschlichen Gang nicht in Schwingung versetzt werden können. Anders verhält es sich beispielsweise auf Holzdecken in Gebäuden oder auf schlanken Fußgängerbrücken. Kritisch werden hier Bauteile mit Eigenfrequenzen unter 8 Hz in vertikaler und von 0,5-1,2 Hz in horizontaler Richtung angesehen, da diese durch Fußgänger angeregt werden können. (Petersen & Werkle, 2017)

Gehen und Laufen auf schwingendem Untergrund - Literaturvergleich

Für die Lastansätze der Bodenreaktionskräfte gibt es verschiedene Literaturquellen und Richtlinien. Hier ist die eingangs erwähnte VDI-Richtlinie 2038 (Richtlinie VDI 2038-Blatt 1, 2012) in der Anwendung maßgebend. In der Richtlinie wird für horizontale und vertikale Schwingungen eine Formel mit verschiedenen Parametern angewandt. Für vertikale Kräfte wird \begin{align*} F_\mathrm{vp}(t)=F_\mathrm{G}+\sum_i{F_\mathrm{G}\cdot \alpha_{\mathrm{v}i}\cdot \sin(2\cdot \pi\cdot i\cdot f_\mathrm{vp}\cdot t - \varphi_{\mathrm{v}i})} \end{align*} und für horizontale Kräfte (quer zur Kraftrichtung) wird \begin{align*} F_\mathrm{hp}(t)=F_\mathrm{G}+\sum_i{F_\mathrm{G}\cdot \alpha_{\mathrm{h}i}\cdot \sin(2\cdot \pi\cdot i\cdot f_\mathrm{hp}\cdot t - \varphi_{\mathrm{h}i})} \end{align*} angesetzt. Dabei ist $F_\mathrm{G}$ die Gewichtskraft der Person, $\alpha_{i}$ der Last-Koeffizient in der i-fachen Grundfrequenz, $f_\mathrm{p}$ die Grundfrequenz der Personenaktivität und $\varphi_i$ der Phasenwinkel. Die dargestellten Funktionen gelten sowohl für Gehen als auch für Laufen. Die Variablen werden aus folgender Tabelle gewählt.

Abb. 6: Tabelle 3 der VDI 2038 - Blatt 1

Als Parameter für Gehen sind Frequenzen von 1,6-2,4 Hz, für Rennen von 2,0-3,5 Hz angegeben. Zur Geschwindigkeit oder der Schrittlänge macht die Richtlinie keine Angabe. Laut Bachmann (Bachmann & Ammann, 1987) können für Rennen auch Frequenzen bis 5 Hz auftreten, diese seien jedoch für öffentliche Fußgängeranlagen sehr selten. Er ordnet den Gangarten Gehen und Rennen jeweils zugehörige Schrittgeschwindigkeiten und Schrittlängen zu. Er unterscheidet zwischen langsamen, normalem und raschen Gehen, sowie normalem und raschem Laufen (Rennen).

$f_s$ [Hz]$v_s$ [m/sec]$l_s$ [m]
langsames Gehen~1,71,10,60
normales Gehen ~2,01,5 0,75
rasches Gehen ~2,32,21,00
normales Laufen~2,53,31,30
rasches Laufen (Rennen)>3,25,51,75

Pachi (Pachi & Ji, 2005) untersuchte Schrittgeschwindigkeit, Schrittlänge und Frequenz auf zwei Fußgängerbrücken und kam zum Ergebnis, dass sowohl Schrittlänge als auch –Geschwindigkeit geringer sind, als in anderen Literaturquellen angegeben. Jedoch erschließt sich aus seinem Bericht nicht, wie groß die Schwingungsamplituden der Brücken waren und welche Eigenfrequenz diese aufwiesen. Nach seinen Untersuchungen lag der Frequenzbereich für Gehen zwischen 1,4 und 2,1 Hz bei einer Geschwindigkeit von 0,93 bis 1,8 m/sec. Als durchschnittliche Schrittlänge ermittelte er 0,71 m.

Anpassung des Ganges an einen schwingenden Untergrund

Je nachdem, wie stark ein Untergrund schwingt, passt der Mensch seinen Gang an die Schwingung an. Dies gilt sowohl für horizontale, als auch für vertikale Schwingungen. Die Anpassung der Schrittfrequenz und damit auch mit der Ganggeschwindigkeit, ist für die Standsicherheit der Person notwendig.

Je stärker ein Bauwerk schwingt, desto eher versuchen die sich darauf befindenden Personen, ihre Schrittfrequenz dem schwingenden Untergrund anzupassen. Laut Bachmann (Bachmann & Ammann, 1987) und der VDI 2038 (Richtlinie VDI 2038-Blatt 1, 2012) ist es für Fußgänger bei einer vertikalen Verschiebung von 10 mm kaum mehr möglich, in der bevorzugten Ganggeschwindigkeit zu Gehen oder zu Rennen, da man sonst aus dem Tritt gerät. Bei geringeren Verschiebungsamplituden sei dieser Effekt jedoch unbedeutend.
In den nachfolgenden Videos wurde dies an einer Versuchsbrücke demonstriert.

Um einen möglichst starren Untergrund zu erhalten, wurde die Fußgängerbrücke durch ein zusätzliches Auflager in der Nähe der Feldmitte gelagert. Dadurch schwingt die Brücke bei den ersten Durchläufen der Videos nicht bzw. kaum. Im Video zum Gehen sieht man, dass obwohl die Brücke leicht schwingt, die Größe der Amplitude nicht ausreicht, um den Gang zu beeinflussen. Da die Eigenfrequenz der Brücke bei 2,48 Hz liegt, wird diese durch Rennen/Joggen wesentlich stärker angeregt. Beim freien Joggen kann man sehen, wie die starken Schwingungen den Probanden aus dem Tritt bringen und so kurz zum Stoppen zwingen. Beim Joggen mit Taktvorgabe in Eigenfrequenz ist sowohl die Ganggeschwindigkeit, als auch die Schrittlänge kleiner, jedoch wird der Gang durch die Brücke nicht behindert.

Bei horizontalen Schwingungen sorgt die Anpassung des Schrittes dafür, dass sich die Personen alle in einem Gleichschritt kommen, und damit die Schwingungen noch verstärken. Dies ist im folgenden Video, das nach der Veröffentlichung der Millenium Bridge in London gemacht wurde, gut an der Kopfbewegung der Menschen zu sehen.

Für die Resonanz mit horizontalen Schwingungen quer zur Bewegungsrichtung gibt die VDI 2038 (Richtlinie VDI 2038-Blatt 1, 2012, einen) eine Schwingungsamplitude mit einer Beschleunigung von etwa 0,1 m/s² als Grenzwert an, ab dem sich die darauf befindlichen Personen mit dem Bauwerk synchronisieren.
McRobie et al. (McRobie, Morgenthal, Lasenby, & Ringer, 2003) stellten in ihren Untersuchungen auf horizontal schwingenden Plattformen fest, dass die Probanden mit einer Verbreiterung ihres Ganges und Anpassung der eigenen Schrittfrequenz auf die zweifache Frequenz der horizontalen Schwingung reagierten.
Butz (Butz & Sedlacek, 2006) stellte in ihren Versuchen fest, dass der menschliche Gang durch horizontale Schwingungen stärker beeinflusst wird. Vertikale Schwingungen können durch die Beine und Gelenke absorbiert werden, während laterale Verschiebungen des Untergrundes durch eine zusätzliche Bewegung ausgeglichen werden müssen.



Ausblick und eigener Standpunkt

Um den Lastansatz für Personeninduzierte Schwingungen zu überarbeiten, müssen noch einige experimentelle Untersuchungen durchgeführt werden. Aktuell ist geplant die Geschwindigkeit von Personen kurz vor und mitten auf einer schwingenden Fußgängerbrücke zusammen mit der Größe der Schwingungsamplitude zu erfassen, um den Einfluss der vertikalen Verschiebung und der Anpassung der Geschwindigkeit genauer zu Untersuchen. Der Einfluss der Beinsteifigkeit und Dämpfung des Beines hat im Lastansatz ebenfalls keinen Einfluss und sollte daher auf schwingenden Untergründen ebenfalls weiter untersucht werden.


Fragen

  1. Ab welchen Werten haben laterale und vertikale Schwingungen Einfluss auf den menschlichen Gang?
  2. Welchen Einfluss haben starke Schwingungen auf den menschlichen Gang?


Literatur

Bachmann, H., & Ammann, W. (1987). Structural engineering documents: 3d. Schwingungsprobleme bei Bauwerken: Durch Menschen und Maschinen induzierte Schwingungen. Zürich: Internationale Vereinigung f. Brückenbau u. Hochbau.

Butz, E.C., & Sedlacek, G. (2006). Beitrag zur Berechnung fußgängerinduzierter Brückenschwingungen. Aachen : Shaker, Schriftenreihe Des Lehrstuhls Für Stahlbau Und Leichtmetallbau Der RWTH Aachen, 60, 154, A1, B9 S. : Ill., Graph. Darst. (2006). = Zugl.: Aachen, Techn. Hochsch., Diss., 2006.

Hegewald, G. Die Ganggeschwindigkeit – eine zentrale Größe in der Ganganalyse. https://medilogic.com/wp-content/uploads/2017/06/Die_Ganggeschwindigkeit_01.pdf

Kramers-de Quervain, I.A., Stüssi, E., & Stacoff, A. (2008). Ganganalyse beim Gehen und Laufen. SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FUR SPORTMEDIZIN UND SPORTTRAUMATOLOGIE, 56; Jg. 2008(2), 35.

McRobie, A., Morgenthal, G., Lasenby, J., & Ringer, M. (2003). Section model tests on human-structure lock-in. PROCEEDINGS- INSTITUTION of CIVIL ENGINEERS BRIDGE ENGINEERING, 156; Jg. 2003(2), 71–80. Pachi, A., & Ji, T. (2005). Frequency and velocity of people walking. The Structural Engineer, 83, 36–40.

Perry, J. (2003). Ganganalyse. Norm und Pathologie des Gehens. München u.a.: Urban & Fischer, 2003. 1. Aufl.

Perry, J., Oster, W., Wiedenhöfer, B., & Berweck, S. (Eds.). (2003). Ganganalyse: Norm und Pathologie des Gehens (1. Aufl.). München: Urban & Fischer.

Petersen, C., & Werkle, H. (2017). Dynamik der Baukonstruktionen (2. Aufl. 2017). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Rotstein, A., Inbar, O., Berginsky, T., & Meckel, Y. (2005). Preferred Transition Speed between Walking and Running: Effects of Training Status. Medicine and Science in Sports and Exercise, 37, 1864–1870.

Vaughan, C.L. (1984). BIOMECHANICS OF RUNNING GAIT. Critical Reviews in Biomedical Engineering, 12; Jg. 1984(1)

Richtlinie VDI 2038-Blatt 1. (Juni 2012).


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