Inhaltsverzeichnis
ATSB2003 Gleichgewicht
Veranstaltung | Aktuelle Themen der Sportbiomechanik |
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Autor(en) | Balze J., Göbel K., Wickert L. |
Bearbeitungsdauer | 30 Minuten |
Zuletzt geändert am | 20.07.2020 |
Einleitung
Im allgemeinen Sinne beschreibt Besancon in der Enzyklopädie der Physik das Gleichgewicht als ein System, welches sich ohne äußerliche Einwirkung nicht verändert (Besancon, 2013). Aber was bedeutet dies nun für den Menschen? Der Mensch als System hat ein Problem. Es befinden sich circa zwei Drittel seines Gewichtes auf zwei Drittel seiner Größe. Dies hat zur Folge, dass das menschliche Gleichgewichtssystem von Natur aus sehr instabil ist und eine dauerhafte Regulierung benötigt. Diese Regulierung steht besonderen Herausforderungen gegenüber. Als Zweibeiner hat der Mensch drei Phasen von Bodenkontakt. Stehen, gehen und laufen werden durch die Anzahl an Beinen, welche Bodenkontakt haben, auseinandergehalten. Stehen bedeutet beide Beine haben Kontakt zum Boden. Beim Gehen ist immer ein Bein und beim Laufen sind beide Beine in der Luft. (Winter, 1995).
Definition
Aber wie kann man nun das menschliche Gleichgewicht definieren? Besancon beschreibt das Zentrum der Gravitation (Gravizentrum) als den Punkt eines Systems, an dem alle wirkenden Kräfte ihren Ursprung haben. Die Gleichgewichtsfähigkeit beschreibt nun die Fähigkeit sein Gravizentrum über seiner unterstützenden Basisfläche zu halten und möglichst wenig horizontal zu schwingen (Shumway-Cook, Anson, 1988). Übersetzt für den Menschen bedeutet dies nun, dass ein „menschlicher Körper dann im motorischen Gleichgewicht ist, wenn die Resultierende aller wirkenden Kräfte und die Summe aller Drehmomente bestimmte Werte nicht überschreiten.“ (Moon, 2014)
Diese Definition des Gleichgewichts beschreibt allerdings nur einen statischen Zustand und ist nicht auf dynamische Körperzustände übertragbar. Wobei der menschliche Körper im physikalischen Sinne kein statisches System darstellt. Selbst im Ruhezustand weist der Körper feine organische Bewegungen auf. Hierbei handelt es sich beispielsweise um vereinzelte Muskelspannungen oder -zuckungen oder das Wandern von Körperflüssigkeiten. Aus diesem Grund bezeichnet man den Zustand eines menschlichen Körpers auch als quasistatisch. (Moon, 2014)
Im Rahmen dieses Wiki-Projekts werden wir uns auf den statischen Teil des Gleichgewichts konzentrieren, da der dynamische Anteil ein hoch komplexes System darstellt und allein schon mehrere Projekte im Wiki füllen könnte.
Sensomotorik
Wie ist der Mensch aber nun in der Lage den Zustand seines Gleichgewichts zu erkennen und diesen zu regulieren? Dazu muss der Mensch sensorische und motorische Fähigkeiten besitzen. Die sensorischen Fähigkeiten beschreiben die Wahrnehmung von Sinnesleistungen wie Hören, Sehen und Tasten, während die motorischen Fähigkeiten die Bewegungsfertigkeiten beschreiben. Das Zusammenspiel von sensorischen und motorischen Fähigkeiten nennt man die Sensomotorik. Beides läuft beim Menschen parallel ab. Als Beispiel dazu dient die Augen und Hand-/Fuß-Koordination beim Autofahren. Visuelle Eindrücke werden nach der Verarbeitung an Hände und Füße weitergegeben. Im speziellen werden wir nun auf zwei sensorische Fähigkeiten des Menschen weiter eingehen, welche für das Gleichgewischt von Interesse sind. Im Anschluss geben wir noch einen kurzen Einblick, welche Strategien dem Menschen zur Verfügung stehen um sein Gleichgewicht zu halten.
Sensorik
Bei den sensorischen Fähigkeiten gibt es im Wesentlichen drei wichtige Funktionen. Der Mensch kann das Gleichgewicht mittels des vestibulären Systems spüren, er kann Gleichgewicht visuell erkennen und auch ertasten. Im Rahmen des Wiki-Projektes werden wir uns mit den ersten beiden genannten sensorischen Fähigkeiten beschäftigen.
Vestibuläres System
Um das Gleichgewicht zu kontrollieren, ist das vestibuläre System maßgeblich an der Kontrolle der Lage unseres Körpers beteiligt. Gerade, wenn wir Sprünge auf einem Schwebebalken ausführen oder einfach nur gehen, läuft ein komplexer physiologischer Ablauf in unserem Innenohr ab. Im Weiteren soll das vestibuläre System erläutert werden, welches maßgeblich mit daran beteiligt ist, den Körper im Gleichgewicht zu halten und Informationen zu sammeln.
Bau und Funktion des Ohres
Das Ohr enthält zwei sensorische Systeme, die in einer engen Beziehung zueinander stehen, jedoch unterschiedliche Funktionen besitzen. Das Gehör- und Gleichgewichtsorgan, bilden sich im anatomischen Aufbau zu einer Einheit im Innenohr zusammen.
(Abb.1: Innenohr, (Wikipedia, 2016))
Das Innenohr besteht aus der Schnecke (Cochlea), die Teil des auditorischen Systems ist, und dem Labyrinth. Das vestibuläre Labyrinth befindet sich unmittelbar an der Cochlea und ist mit ihr verbunden. Umgeben wird das Innenohr von einer harten Knochenkapsel und stellt ein verzweigtes System von Gängen und Hohlräumen dar (knöchernes Labyrinth), welches mit einer Flüssigkeit (Perilymphe) gefüllt ist. In das mit Perilymphe gefüllte knöcherne Labyrinth ist das häutige Labyrinth eingelagert, welches ebenfalls mit einer Flüssigkeit (Endolymphe) befüllt ist. Das Labyrinth stellt einen wichtigen Teil des vestibulären Systems dar, da es für den Gleichgewichtssinn zuständig ist.
Das Gleichgewichtsorgan umfasst dabei zwei Typen von Strukturen mit unterschiedlichen Funktionen: die Makulaorgane, die die Schwerkraft und die Neigung des Kopfes wahrnehmen, und die Bogengänge, die auf Kopfdrehungen reagieren. Der Bogengangsapparat setzt sich zusammen aus drei Bogengängen (Ductus semiciculares anterior, posterior, lateralis), die jeweils entlang einer der drei Raumachsen ausgerichtet sind, und ihren Erweiterungen (Ampullae). Weil es für jede Raumachse einen Bogengang gibt, sind wir in der Lage, die Rotation in jede dieser Richtungen zu erfassen (Silva et. Al.: 465). Die Bogengänge, in denen sich die Haarzellen befinden, werden von der Cupula umgeben. Diese ist mit dem Knochen der Bogengänge verbunden. Rotiert der Kopf, bewegt sich die Cupula wegen dieser Verbindung mit dem Knochen mit. Die Endolymphe bleibt wegen ihrer Trägheit zurück und stößt gegen die Cupula. Der Bogengang arbeitet dabei nach dem Prinzip des Trägheitskompasses. Eine Drehung des Kopfes in der Ebene des Bogenganges, oder auch eine Drehbewegung des Körpers, führt zum Zurückbleiben der Endolymphe entsprechend ihrer Massenträgheit. Dies führt zu einer veränderten Bewegung der Endolymphe zur Cupula innerhalb der Bogengängen während der Kopfdrehung und zu einer entgegengesetzten Richtung gegenüber den häutigen und knöchernen Bogengangwandungen. Diese Relativbewegung der Endolymphe stellt den adäquaten Reiz für die Sinneszellen der Bogengänge dar. Erfolgt eine Kopfdrehung so, dass ihre Ebene mit keiner der drei vorgegebenen Bogengangebenen zusammenfällt, dann verteilt sich die Drehbeschleunigung anteilsmäßig auf alle drei Bogengänge (Weineck, 2010: 141).
In den Erweiterungen der Bogengänge, der sogenannten Ampullae, befinden sich die beiden Sinnesfelder (Macula), die unterteilt werden in das große Vorhofsäckchen (Macula utriculus) und dem kleinen Vorhofsäckchen (Macula sacculi). Diese bilden das mit Endolymphe gefüllte häutige Labyrinth und dienen der Registrierung von Beschleunigungen und Lageveränderungen.
Die beiden Makulaorgane sind in einem Winkel von 90° zueinander ausgerichtet. Die Macula utriculi erfasst die Translationsbewegungen in horizontaler Richtung (z.B. abbremsen eines Autos) und die Macula sacculi erfasst Translationsbewegungen in vertikaler Richtung (z.B. Fahrstuhl fahren).
(Abb.2: Vestibulärsystem, (Haslwanter, 2012))
Sowohl in den vertikalen und horizontalen Bogengangs-, wie auch den Makularorganen, befinden sich Sinnesrezeptoren. In den Makularorganen weisen diese Rezeptoren an ihren Endungen feine Härchen (Otholiten/Stereozilien) auf, die in eine gallertartige Masse (Statholithenmembran) eingelagert sind (Abb.:3). In den Bogengängen befindet sich ebenfalls eine gallertartige Masse (Cupula), aber diese besitzen im Gegensatz zu den Makularorganen keine Otholiten, weshalb diese nicht auf Linearbeschleunigungen reagieren können.
(Abb.3: Makulaorgan und Bogengänge)
Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass Translationsbeschleunigungen eine Reizung der Makulasinneszellen bewirken, Rotationsbeschleunigungen reizen die Bogengangsinneszellen. Dabei werden bei Rotationen um die Körperachse vor allem Rezeptoren der vertikalen Bogengänge gereizt, bei Rotationen um die Körperlängsachse, wie es im Ballet bei Pirouetten oder beim Diskuswurf der Fall ist, die Rezeptoren der horizontalen Bogengänge (Weineck, 2010: 141).
Wenn man auf einem Schwebebalken steht, wird z.B. die horizontale Stabilität über die Bogengänge kontrolliert und zusätzlich durch Meldungen aus den Druckrezeptoren unterstützt. Die Fortbewegung wird durch die Makulaorgane unter Kontrolle gehalten, damit die Beschleunigung kontrolliert wird (Weineck, 2010: 140).
Das vestibuläre System verwendet zudem Haarzellen, um Bewegungen in neuronale Signale umzuwandeln. Die in die Cristae ampullares eingebetteten Bogengangsinneszellen besitzen Haarschöpfe, die eine gemeinsame Gallerthaube (Cupula ampullaris) tragen, die bei Drehbewegungen mit bewegt werden, was eine Verbiegung der Sinneshaare und damit eine Erregung dieser Sinneszellen auslöst (Weineck, 2010: 141). Die Sinnesleisten (Cristae ampullares) in den Erweiterungen der Bogengänge (Ampullae) registrieren vor allem Drehbeschleunigungen, welche die Endolymphe in Bewegung setzen. In weiteren Enden an den Sinneszellen der Maculae und der Cristae die synaptische die peripheren Axone des Gleichgewichtsnerv (N. Vestibularis), dessen Zellkörper im Ganglion vestibulare im Bereich des inneren Gehörgangs liegen. Die in Richtung Hirnstamm verlaufenden zentralen Axone vereinigen sich mit den Neuronen des N. cochlearis und bilden den VIII. Hirnnerv (N. Vestibulocochlearis) (Faller, 1995: 464). Der N. Vestibulocochlearis leitet die von den inneren Haarzellen kommenden elektrischen Impulse zum Hirnstamm auf die Hörbahn sowie Impulse von den Sinneszellen des Vestibularorgans zu den zentralen Vestibulariskernen.
Visuelles System
Das visuelle System ist ebenfalls an der Gleichgewichtskontrolle beteiligt. Frostig definiert die visuelle Wahrnehmung als die Fähigkeit, visuelle Reize zu erkennen, zu unterscheiden und sie durch Vergleich mit früheren Erfahrungen zu interpretieren. Dabei findet die Interpretation der Reize aber im Gehirn statt und nicht im Auge. (Frostig, 1963)
Das vestibuläre und visuelle System unterscheidet sich vor allem durch die Frequenz, welche sie stimuliert. Hohe Frequenzen und kurze Beschleunigungen werden primär vom vestibulären System erfasst, während niedrige Frequenzen und konstante Geschwindigkeiten eher vom visuellen System erfasst werden. Letztere sind für die Kontrolle des Bewegungsapparates und des Haltungszustandes signifikanter. Haltungsschwankungen beim Stehen konzentrieren sich bei unter 0.5 Hz und beim Gehen bei etwa 1.0 Hz. Im gleichen Bereich kann Vektion visuell induziert werden. Im Gegensatz dazu werden vestibuläre Rückmeldungen über lineare Beschleunigungen erst ab einer Frequenz aufwärts von 1.0 Hz ausgelöst. Ebenfalls ist das vestibuläre System weniger sensibel auf die Richtung der linearen Beschleunigung als das visuelle System. Dies hat zur Folge, dass das visuelle System einen größeren Einfluss auf die Kontrolle der Haltung und Fortbewegung des Menschen hat, wohingegen das vestibuläre System mehr zur Kompensation von hochfrequenten Störungen beiträgt. (William, H., Warren, Jr., 1995)
Optischer Fluss
Wie ist der Mensch nun in der Lage visuell eine Richtung, Lage oder Geschwindigkeit bestimmen? Dazu nutzt er den sogenannten optischen Fluss. Eine vereinfachte Darstellung des optischen Flusses sieht wie folgt aus. Wenn sich ein Beobachter in einer stationären Umgebung bewegt unterliegt das reflektierte Licht einer gesetzmäßigen Transformation. Im Zusammenhang mit der statischen Information über die dreidimensionale Gestaltung der Umgebung gibt der optische Fluss Rückmeldung über die Eigenbewegung. (William, H., Warren, Jr., 1995)
Die Bewegungsparallaxe entsteht, wenn sich der Beobachter parallel zu Objekten bewegt, welche sich unterschiedlich weit entfernt von ihm befinden. Objekte, welche weiter entfernt sind, bewegen sich für den Beobachter nun weniger weit als welche, die sich näher an ihm befinden. Bildet man nun diese unterschiedlichen Geschwindigkeitsgradienten ab, welche von Oberflächen in entsprechender Entfernung erzeugt werden, dann entsteht folgende Abbildung.
(Abb. 4: Bewegungsperspektive (William, H., Warren, Jr., 1995))
Die Abbildung zeigt eine Translation des Beobachters parallel zum Boden. Punkte repräsentieren spezielle Punkte in der Umgebung. Linien entsprechen den Geschwindigkeitsgradienten. Die vertikale Linie stellt die Bewegungsrichtung dar. Die Abbildung kann als ein zweidimensionales Geschwindigkeitsdiagramm gesehen werden, wo jeder Vector (Richtung und Geschwindigkeit) einer optischen Bewegung eines Elements der Umgebung entspricht. Der Geschwindigkeitsgradient gibt nun Rückschluss auf die Entfernung des Umgebungselements. Dies beschreibt William als Bewegungsperspektive und das daraus resultierende Muster korrespondiert mit der Eigenbewegung. Diese Wahrnehmung wird auch visuelle Kinästhesie genannt. Kern des ganzen ist also nun, dass das Expansionszentrum mit der Richtung der Translation der Eigenbewegung korrespondiert. (William, H., Warren, Jr., 1995)
Dies gilt aber nur bei einer reinen Translation. Wenn der Beobachter nun aber das Auge bewegt oder den Kopf dreht, verkompliziert sich das ganze System sehr schnell. Eine krummlinige Bewegung eines Beobachters kann aber einfach aus der Summe von Translation und Rotation beschrieben werden. Folgende Abbildung zeigt die daraus entstehende Projektion auf eine Kugel. Translation des Beobachters erzeugt einen radialen Fluss entlang der Meridiane und wird als translatorische Komponente bezeichnet. Rotation des Beobachters erzeugt einen quellfreien Fluss entlang der Parallelen und wir als rotatorische Komponente bezeichnet. (William, H., Warren, Jr., 1995)
(Abb. 5: Translatorische und rotatorische Komponente auf eine Kugel transformiert (William, H., Warren, Jr., 1995))
Mit Hilfe dieser visuellen Wahrnehmung ist das menschliche Gehirn in der Lage Position, Geschwindigkeit und Ausrichtung des Körpers zu bestimmen, unter Berücksichtigung seiner vorherigen Erfahrung. Dass gerade die visuelle Wahrnehmung im Bereich des Stehens (unterhalb von 0.5 Hz) einen großen Einfluss hat, wurde unter anderem in der Studie von Assländer, Hettich und Gollhofer bewiesen. Es wurde nachgewiesen, dass das menschliche Gleichgewischt beim Stehen stabiler ist mit geöffneten Augen, statt mit geschlossenen Augen. Die Stabilität wird in der Studie damit bestätigt, dass die Menschen beim Stehen mit weniger ausgeprägten Schwankungen unterliegen, wenn sie auf ein auf ein stationäres Ziel blicken. Dass ein Mensch beim Stehen immer etwas schwanken wird, ist normal, da der Mensch keinen 100% statischen Zustand besitzt. Sein „inneres Rauschen“ wird dafür sorgen, dass er minimal schwanken wird. Nutzt man aber einen visuellen Fixpunkt, kann die Auslenkung beim ruhigen Stehen um den Faktor zwei verkleinert werden. (Assländer, L., Hettich, G., Gollhofer, A., 2013)
Motorik
Die Motorik beschreibt die Bewegungsfertigkeit des Menschen. Hierbei geht es um die Gesamtheit der Aktionen der Skelettmuskulatur. Für das statische Gleichgewicht des Menschen sind hier vor allem zwei Aspekte interessant. Einerseits die Muskulatur des Fußes, welcher größtenteils für das Halten des Gleichgewichtes verantwortlich ist, und andererseits Gewisse Bewegungsstrategien, welche dafür sorgen, dass der Menschliche Körper nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Da der Aufbau des Fußes recht komplex ist, werden wir im Rahmen des Wiki-Projektes uns auf die Bewegungsstrategien konzentrieren.
Gelenkstrategie, Hüftstrategie, Schrittstrategie
Bis heute ist es nicht abschließend geklärt, wie es dem Menschen gelingt, sein Gleichgewicht zu halten, insbesondere bei Störeinflüssen wie z.B. einem Stoß. Generell werden beim Menschen drei Strategien unterschieden, die ein Mensch benutzt, um sein Gleichgewicht zu halten. Diese sind die Gelenkstrategie, die Hüftstrategie und die Schrittstrategie. (Kot, 2016) Bei der Schrittstrategie handelt es sich um den Ausfallschritt den ein Mensch vollführt, wenn er z.B. einem starken Stoß ausgesetzt ist. Die Gelenk- sowie die Hüftstrategie hingegen werden beim Stand, ohne große Störungen, angewandt. Auf die beiden letztgenannten Strategien soll hier näher eingegangen werden.
Mit Hilfe der Gelenk- und Hüftstrategie wird dafür gesorgt, dass sich das Massenzentrum (CoM) des Menschen immer innerhalb des Stützpolygons befindet (Nenchev, 2007). Das Stützpolygon entspricht der konvexen Hülle, die durch die auf dem Boden stehenden Füße gebildet wird. Bei dem Stand auf einem Bein entspricht das Stützpolygon gerade der Fußfläche. Liegt das CoM außerhalb des Stützpolygons würde ein Mensch kippen bzw. stürzen. Die Gelenk- bzw. Hüftstrategie nimmt somit Einfluss auf die Position des CoM und sorgt für ein statisches Gleichgewicht. In Abb. 6 sind Gelenkstrategie a) und Hüftstrategie b) zu sehen und die zugehörige Lage des CoM.
(Abb. 6: Gelenkstrategie a) und Hüftstrategie b) eines Menschen, um den CoM innerhalb des Stützpolygons zu halten.)
Ein gesunder, erwachsener Mensch verwendet hauptsächlich die Gelenkstrategie, um sein Gleichgewicht zu halten (Mok, 2004). Dabei wird im Fußgelenk ein Moment erzeugt. Durch das erzeugte Moment können kleine Schwankungen im Oberkörper ausbalanciert werden und das CoM bleibt innerhalb des Stützpolygons. Die Verwendung der Hüftstrategie hingegen ist untypisch und kommt bei einem gesunden Menschen nur selten zum Einsatz (Brinckmann, 2000). Mit der Hüftstrategie wird die Abweichung des CoM von der vertikalen Körperachse korrigiert (Nenchev, 2007). Ein gesunder Mensch verwendet die Hüftstrategie nur im Ausnahmefall, z.B. wenn die Gelenkstrategie nicht verwendet werden kann (Kot, 2016). Weiterhin kann festgehalten werden, dass insbesondere Menschen im Alter zunehmend die Hüftstrategie verwenden. Der Grund hierfür liegt darin, dass ältere Menschen mit ihrem Fußgelenk nicht mehr so effektiv gegensteuern können wie junge Menschen. Durch Anwendung der Hüftstrategie wird dieser Nachteil kompensiert (Turner-Bund, 2012).
Zero Moment Point (ZMP)
Eine Möglichkeit sich dem Thema Gleichgewicht auf eine mathematische Weise zu nähern, bietet das sogenannte Zero Moment Point (ZMP). Mit Hilfe des ZMP lässt sich ein Gleichgewichtskriterium ermitteln, mit dem ein Sturz vorhergesagt werden kann. Das ZMP wurde von Vukobratovic et al. (Vukobratovic, 1973) entwickelt und 1972 vorgestellt. Anwendung findet das ZMP bei der Steuerung und Regelung von zweibeinigen Robotern, wie z.B. dem humanoiden Roboter Asimo von Honda (Zero Moment Point, 2020). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ein Roboter zwar in Teilen der Anatomie des Menschen nachempfunden ist, aber natürlich nicht im Geringsten an die Komplexität des biologischen Vorbilds heranreicht. Der Leser sollte daher im Hinterkopf behalten, dass das ZMP ein überaus nützliches Konzept ist, welches aber nur in einem speziell abgesteckten Rahmen gilt und nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen werden kann. An dieser Stelle sei angemerkt, dass bei technischen Systemen in der Regel von Stabilität statt von Gleichgewicht gesprochen wird. In diesem Artikel werden diese beiden Begriffe äquivalent benutzt und beziehen sich auf denselben Sachverhalt.
Ein System ist stabil (im Gleichgewicht), wenn es im Falle einer Störung in die ursprüngliche Lage zurückkehrt. Diese Aussage kann ebenso auf einen Menschen bzw. zweibeinigen Roboter übertragen werden. Angenommen ein Roboter gerät nach einem leichten Stoß ins schwanken. Nach vorangegangener Definition befindet sich der Roboter im Gleichgewicht, solange er in seine Ausgangsposition zurückkehrt. An dieser Stelle soll das ZMP-Kriterium eingeführt werden. Mit Hilfe des ZMP-Kriteriums ist es möglich eine Aussage über die Stabilität zu treffen, noch bevor der schwankende Roboter in seine Ausgangsposition zurückgekehrt ist. Das ZMP-Kriterium lautet: Stabilität ist sichergestellt, wenn der ZMP innerhalb des Stützpolygons liegt. (Urbann, 2017)
(Abb. 7: Kräfte und Momente, die auf den Fuß wirken und verwendet werden, um das ZMP zu berechnen. Abbildung erstellt in Anlehnung an (Dekker, 2009))
An dieser Stelle ist bekannt, dass bei einem zweibeinigen Roboter von Gleichgewicht gesprochen wird, wenn das sogenannte ZMP sich in einem Stützpolygon befindet. Im Folgenden wird nun das ZMP hergeleitet. Bei der Herleitung des ZMP werden zunächst zwei Annahmen getroffen. Die erste Annahme bezieht sich auf die Konstruktion des Fußes, die zweite Annahme auf den Untergrund auf dem der Fuß steht. Sowohl der Fuß, als auch der Untergrund werden als glatte Flächen mit hoher Reibung angenommen. Diese Annahmen schließen ein “ausrutschen” des Roboters aus. Die Kontaktfläche zwischen Fuß und Untergrund ist maximal. Um die Annahmen zu versinnbildlichen kann sich eine Person vorgestellt werden, die mit Turnschuhen in einer Sporthalle steht.
Für die Herleitung des ZMP müssen zunächst die auftretenden Kräfte und Momente benannt werden. Wie in Abbildung (7) zu sehen, werden Kräfte und Momente an zwei Punkten $A$ und $P$ betrachtet. In Punkt $A$ werden die Kräfte und Momente zusammengefasst, die aufgrund des Körpers und dessen Orientierung im Raum auf den Fuß wirken. Der Punkt $P$ fasst wiederum die Gegenkräfte und -momente zusammen, die wirken, um den Roboter im Gleichgewicht zu halten. Weiterhin wirkt noch die Erdbeschleunigung $g$ auf den Fuß.
Nachdem nun alle wirkenden Kräfte und Momente bekannt sind, kann nun deren Beziehung untereinander genauer betrachtet werden. Ziel ist es alle Unbekannten Größen, die in Abbildung (5) zu sehen sind, zu bestimmen. Um alle Unbekannten Größen bestimmen zu können werden die vorangegangenen Annahmen ausgenutzt. Es wurde die Annahme getroffen, dass zwischen Fuß und Untergrund Reibung existiert. Die Reibung wird durch die Kräfte $F_{PX}$, $F_{PY}$ und das Moment $M_{PZ}$ ausgedrückt, welche wiederum die horizontalen Kräfte $F_{AX}$, $F_{AY}$ sowie das vertikale Moment $M_{AZ}$ in Punkt $A$ kompensieren. Diese fallen somit weg und müssen nicht weiter betrachtet werden. Damit sich weitere Vereinfachungen ergeben wird an dieser Stelle der Punkt $P$ genauer betrachtet. Bisher wurde nicht geklärt an welcher Position der Punkt $P$ liegt. Der Punkt $P$ wird an die Stelle verschoben, so dass die vertikale Kraft $F_{PZ}$ die horizontalen Momente $M_{AX}$, $M_{AY}$ kompensiert. Durch diese Verschiebung werden die horizontalen Momente in Punkt $P$ zu Null. Somit gilt:
\begin{align*} M_{PX} = M_{PY} = 0 \ \ \ \ \ (1) \end{align*}
Aus Gleichung (1) leitet sich zudem der Name des ZMP her. Das ZMP ist der Punkt in dem die Momente $M_{PX}$ und $M_{PY}$ zu Null werden. Diesen Punkt gilt es zu finden. Es gilt, solange das ZMP innerhalb des Stützpolygons liegt ist der Roboter im Gleichgewicht. Das ZMP wird über das Gleichgewicht von Kräften und Momenten ausgedrückt (Gleichung 2 und 3).
\begin{align} F_P + F_A = 0 \ \ \ \ \ (2) \end{align}
\begin{align*} p_{OP} \times F_P + M_A + M_{PZ} + p_{OA} \times F_A = 0 \ \ \ \ \ (3) \end{align*}
Anhand von Gleichung (3) kann das ZMP $p_{OP}$ bestimmt und somit eine Aussage über das Gleichgewicht getroffen werden. Dies geschieht mittels numerischer Methoden.
(Abb. 8: Das ZMP eines Menschen mit Traglast.)
In Abbildung 8 soll das Prinzip noch einmal zusammengefasst werden. Zu sehen ist ein Roboter bzw. eine Person die ein Paket trägt. Das CoM liegt innerhalb des Stützpolygons. Das ZMP hingegen liegt außerhalb bzw. an der Grenze des Stützpolygons. Daher kann mit Hilfe des ZMP bereits ein Sturz bzw. ein Kippen vorhergesagt werden, noch ehe das CoM das Stützpolygon verlässt. Der Roboter bzw. die Person ist nicht im Gleichgewicht.
Im Video ist der humanoide Roboter Asimo von Honda zu sehen. Dieser verwendet das ZMP, um sein Gleichgewicht halten zu können. Bei genauerer Betrachtung fällt der typische Roboterfuß mit der großen und flachen Fußfläche auf. Ebenso, dass der Untergrund auf dem sich der Roboter bewegt, eben ist. Dies waren Voraussetzungen für die Gültigkeit des ZMP.
Zusammenfassung und Ausblick
Gerade das Thema Gleichgewicht ist ein sehr breit gefächertes Thema. Angefangen von den hoch komplexen Zusammenhängen der dynamischen Bewegung des Menschen bis hin zu unterschiedlichen Sensoren und deren Zusammenführung und Verarbeitung. Ein ebenfalls sehr komplexes Thema wirft auch heute immer noch ungeklärte Fragen auf und betrifft den Zusammenhang zwischen der menschlichen Wahrnehmung (Sensorik) und der aktiven Regelung der Muskeln (Motorik). Wir haben hier im Rahmen des Wiki-Projektes versucht einen groben Einblick über das Thema des statischen Gleichgewichts zu geben. Angefangen von der Definition bis hin zur menschlichen Wahrnehmung. Ebenfalls haben wir noch einen Einblick gegeben, wie der Mensch versucht sein eigenes Gleichgewicht mittels der Hüftstrategie zu halten, und wie das Thema Gleichgewicht in der Robotik angegangen wird.
Da jedes einzelne Unterthema dieses Projektes ein recht komplexes System darstellt, kann hier an jeder Stelle angesetzt werden und das Thema in einem neuen Wiki-Projekt weiter bearbeitet werden. Ganz besonders das Thema der Motorik des Fußes ist für das Gleichgewicht von großer Bedeutung und wurde hier aus zeitlichen Gründen nicht mehr bearbeitet. Dieses Thema wäre eine gute Ergänzung zu diesem Beitrag um das Thema Gleichgewicht noch breiter darzustellen.
Fragen
- Besitzt der Mensch überhaupt ein statisches Gleichgewicht?
- Welche Beeinflussungen haben Störungen der einzelnen Sensoren des Menschen?
- Wie lässt sich die Güte des Gleichgewichts beim Menschen messen und vergleichen?
- Besitzen Menschen mit „schlechterem“ Gleichgewicht im alltäglichen Leben Nachteile?
Literatur
- Assländer, L., Hettich, G., Gollhofer, A., Contribution of visual velocity and displacement cues to human balancing of support surface tilt, 2013, Springer Verlag Berlin Heidelberg
- Brinckmann, P., Frobin, W., & Leivseth, G. (2000). Orthopädische Biomechanik. Georg Thieme Verlag.
- Dekker, M. H. P. (2009). Zero-moment point method for stable biped walking. Eindhoven University of Technology.
- Faller, A. (1995) Ohr. In: ders. (Hrsg.) Der Körper des Menschen. Einführung in Bau und Funktion. Stuttgart: Thieme Verlag, (S.456-464)
- Frostig, M. The Marianne Frostig Developmental Test of Visual Perception, 1963
- Haslwanter, Thomas (2012).Vestibular System [Photograph]. Retrieved July, 20, 2012, from https://commons.wikimedia.org/wiki/File:VestibularSystem.png.
- Kot, A., & Nawrocka, A. (2016, May). Double inverted pendulum for human hip strategy of balance modelling. In 2016 17th International Carpathian Control Conference (ICCC) (pp. 368-371). IEEE.
- Mok, N. W., Brauer, S. G., & Hodges, P. W. (2004). Hip strategy for balance control in quiet standing is reduced in people with low back pain. Spine, 29(6), E107-E112.
- Nenchev, D. N., & Nishio, A. (2007, October). Experimental validation of ankle and hip strategies for balance recovery with a biped subjected to an impact. In 2007 IEEE/RSJ International Conference on Intelligent Robots and Systems (pp. 4035-4040). IEEE.
- Turner-Bund, D. (2012). Sturzprophylaxe-Training. Meyer & Meyer.
- Urbann, O. (2017). Laufen humanoider Roboter auf regelungstechnischer Basis mit Echtzeitmodifikation der Fußpositionen (Doctoral dissertation).
- Vukobratovic, M. (1973). How to control artificial anthropomorphic systems. IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics, (5), 497-507.
- Weineck, J. (2010), Das vestibuläre Sinnessystem. In: ders. (Hrsg.) Sportbiologie. Balingen: Spitta Verlag, (S. 139-144).
- Winter, D. A. (1995). Human balance and posture control during standing and walking. Gait & posture, 3(4), 193-214.
- Robert Besancon: The Encyclopedia of Physics. Springer Science & Business Media, 2013, ISBN 1-4615-6902-8
- Wikipedia (2016).Anatomy Human Ear [Photograph]. Retrieved July, 20, 2016, from https://commons.wikimedia.org/wiki/File:AnatomyHumanEar_German.png.
- William, H., Warren, Jr., Self-Motion: Visual Perception and Visual Control, 1995
- Zero Moment Point. (2020). Wikipedia. Retrieved 2 July, 2020, from https://en.wikipedia.org/wiki/Zero_moment_point